Alles, was wir haben, ist das Jetzt
Sa., 13.09.2025
Ein Gespräch mit Benjamin William über SPIEGELKRIEGER
Der Schriftsteller Benjamin William befindet sich in einer intensiven Schaffensphase. Erst im Juni 2025 veröffentlichte er seinen Gedichtband NESSAYA. Nur wenige Wochen später, im Hochsommer, entstand in bemerkenswerter Dichte ein neues Manuskript: SPIEGELKRIEGER. In einem Zeitraum von etwas mehr als einem Monat – zwischen dem 21. Juli und dem 25. August 2025 – schrieb William einen Zyklus von 37 Gedichten, die in ihrer Geschlossenheit wie in ihrer thematischen Dringlichkeit ein besonderes Gewicht tragen.
Die Texte von SPIEGELKRIEGER sind politisch, vielstimmig und unversöhnlich. Sie stellen Fragen an eine Gesellschaft, die sich an Wendepunkten befindet, und geben Figuren eine Stimme, deren Perspektiven sonst zu oft unsichtbar bleiben. Von den Opfern rassistischer Gewalt bis hin zu anonymisierten Stimmen aus der Arbeitswelt, von privaten, zersplitterten Momenten bis zu globalen Verweisen auf Konflikte und Kriege – der Zyklus verschränkt individuelle und kollektive Erfahrungen zu einem Panorama, das sich nicht in wohlgefälliger Lyrik auflösen will.
Auffällig ist dabei die Dringlichkeit, mit der William schreibt. Er selbst beschreibt die Texte nicht als geplantes Projekt, sondern als eine Arbeit, die sich geradezu aufgedrängt hat, als eine Stimme, die durch ihn hindurch wollte und musste. Jedes Gedicht ist wie ein Protokoll eines Moments, einer Situation, einer inneren oder äußeren Erschütterung. Gemeinsam bilden sie ein Netz aus Spiegelungen und Brüchen, das sich sowohl an den Leser wie an die Gesellschaft richtet.
Ob SPIEGELKRIEGER in naher Zukunft veröffentlicht wird, ist offen. Doch schon jetzt markiert das Manuskript eine der politischsten und kompromisslosesten Arbeiten in Williams bisherigem Werk. Im Gespräch erklärt er, was ihn zu dieser Arbeit getrieben hat, wie er sich den Stimmen seiner Figuren annähert und warum er seine Kunst nicht als berechnetes, sondern als notwendiges Handeln versteht.
Q: Vor drei Monaten erschien dein Band Nessaya. Nun hast du in diesem Sommer bereits ein neues Manuskript abgeschlossen – SPIEGELKRIEGER. Kannst du uns etwas über dieses Projekt erzählen?
A: Es ist ein Zyklus mit 37 Gedichten, den ich innerhalb weniger Wochen in diesem Sommer schrieb. Es war eine sehr dringliche Arbeit, die die Um- und Zustände unserer Gesellschaft beobachten und beschreiben. Ich musste diese Texte aus meinem System bekommen, weil sie gesagt werden wollten.
Q: Es klingt fast etwas Unbedingtes mit, so, als hätten die Texte dich gefunden. Wie würdest du diesen Prozess beschreiben?
A: Diese Texte kamen von alleine zu mir. Sie waren dringlich und keine Zeile konnte ungeschrieben verklingen. Wir stehen als Gesellschaft an Wendepunkten. Es sind entscheidende Zeiten, und ich weiß, das sagt man immer. Aber dieses Mal sind wir gefühlt tatsächlich vor einem Wandel, der uns als Gesellschaft für Jahrzehnte prägen wird.
Q: Deine Arbeit wirkt in SPIEGELKRIEGER sehr politisch – sie ist nah an aktuellen Krisen, Gewalt, gesellschaftlichen Brüchen. Wie gelingt dir dabei die Balance zwischen Kunst und Stellungnahme?
A: Die Gedichte kommen, wie sie geschrieben werden wollen und auch sollen, in ihrem jeweiligen Moment. So, wie Kreativität geschehen will, wann immer sie es entscheidet, und dabei hat nicht der Künstler das Sagen. Die Themen in dem Manuskript sind akut, sie sind absolut notwendig, sie sind Projektionsflächen und Reflektoren zugleich. Und diese Themen müssen in ein Bewusstsein, in unserem als Gesellschaft, sonst erstarren wir weiter, und ich als Künstler wehre mich dagegen.
Q: Bedeutet das, dass du das Publikum beim Schreiben völlig ausblendest?
A: Wenn ein Künstler weiß, wie solch einer Balanceakt gelingt, dann agiert er aus Berechnung. Und ich will das für meine Kunst nicht. Sie soll impulsiv sein, etwas auslösen, anregen und, wenn möglich, bewegen, womit sie nachhaltig wird. Und das ist mein Versuch, wenn ich an einem Projekt arbeite, mehr nicht.
Q: Und was entscheidet dann über das Thema, das du in einem Gedichtzyklus bearbeitest?
A: Ich entscheide es nicht, sondern der Ausgangspunkt selbst, das Thema, das nach Ausdruck verlangt. Und in diesem Manuskript vereinen sich diese Themen durch die Figuren, die sie ansprechen, durchleben und auch hinter sich lassen.
Q: Deine Figuren wirken oft wie Spiegel, wie Stimmen, die aus einer kollektiven Erfahrung sprechen. Wie gehst du an ihre Perspektiven heran?
A: Ich begebe mich immer in die Perspektive der Figur. Ich schreibe so, wie das Dringliche sich aus deren Sicht darstellen könnte, und nicht aus der Vorstellung heraus, wie das Publikum es aufnehmen könnte. Ich mag und will keine Berechnung in meiner Kunst. Würde es danach gehen, dann bräuchte ich nur über schöne und banale Dinge und Themen schreiben, weil mir klar ist, dass politische Literatur erstmal mit Abstand begegnet wird und raue, unschöne Begebenheiten am liebsten gemieden werden, auch von einem breiteren Publikum. Das Leben ist sorgenvoll genug, dann wollen die meisten Menschen damit nicht auch noch auf intellektuelle Weise beschallt werden. Traurig, aber wahr.
Q: Und doch entsteht dadurch eine Form von Gemeinsamkeit.
A: Jede Stimme in dem Band erzählt eine eigene, individuelle Geschichte, wie sie unzählig in unserer Gesellschaft gelebt und durchlebt, ja, gar durchgestanden werden. Jede Figur in den Texten ist also ein Spiegelbild von dem, wer wir einzeln oder im Kollektiv sind. So sehr sie voneinander parallel getrennt erscheinen, sind sie aber das, was wir in einem Gemeinsam darstellen.
Q: Heißt das, du siehst SPIEGELKRIEGER auch als dein politischstes Werk?
A: Es sind die politischsten Texte, die ich je schrieb, ja. Aber ich weiß nicht, wann oder wie ich sie veröffentliche. Ich denke, es braucht erstmal kein neues Buch von mir, und vielleicht rede ich in drei Monaten schon gar nicht mehr von diesem Projekt. Aber in der Zeit seiner Entstehung und jetzt unmittelbar danach ist es das dringlichste, was ich künstlerisch zu sagen habe.
Q: Rückblickend – wie schaust du heute auf diesen Sommer zurück, in dem das Manuskript entstand?
A: Es ist ganz einfach: Diese Texte mussten geschrieben werden. Der Moment ihrer Notwendigkeit musste festgehalten werden. Er konnte nicht einfach unbeachtet vergehen.
Q: Und was bleibt nun, nachdem die Arbeit getan ist?
A: Meine Kunst geschieht in den Augenblicken, wenn sie geschehen will, ja, wenn sie gesagt sein muss. Alles, was wir haben, ist das Jetzt. Und was wir als Gesellschaft gefühlt nur noch übrig haben, sind Risse, die kaum noch zu kitten scheinen, Mauern, und Brücken, die immer weniger geschlagen werden. Jedoch denke ich, dass diese Texte nachhallen werden, ob veröffentlicht oder nicht. Sie sind ja in dieser Welt. Sie sind ja da, schwarz auf weiß. Sie werden gefunden werden – so oder so.